Wirklich denken und glauben wagen

Wohin? Dahin!

Wirklich denken und glauben wagen

Wirklich denken und glauben wagen 1280 853 Daniel Rietzler

Die Wirklichkeit ist stärker

Seit Beginn der Corona-Krise begleiten mich die ersten Sätze des lesenswerten Artikels „Plötzlich Elite. In der Krise offenbart sich: Systemrelevant sind die Unterbezahlten. Wie das Virus die soziale Frage neu aufwirft“ (DIE ZEIT Nr. 15/2020, 02.04.2020). Die Autoren Robert Pausch, Elisabeth Raether und Bernd Ulrich thematisieren darin die neu aufbrechende soziale Frage. Mir gab vor allem der Einstieg und die dem Artikel zugrundeliegende Perspektive zu denken: „Kein Mensch kann mit der ganzen Wahrheit über sich selbst leben, wahrscheinlich nicht einmal mit der halben.“ Im Hinblick auf die Gesellschaft heißt es dann, dass stets „Teile der Wirklichkeit abgedunkelt, weichgezeichnet werden“ müssen. Dahinter verbirgt sich die Annahme: Der einzelne Mensch und die Gesellschaft verfügen über die Wirklichkeit, können sie steuern und selbst bestimmen, so dass sie einem nur noch wohldosiert zukommt. Die gegenwärtige Krise jedoch hat diese Annahme in den Staub geschleudert, die Wirklichkeit selbst erhebt Einspruch: Ist es tatsächlich die Aufgabe der aufgeklärten Vernunft in der Moderne, die Wirklichkeit abzudunkeln, Unangenehmes auszublenden, damit sich der Mensch vormachen kann, dass er zumindest diesen kleinen Restbereich selber im Griff hat? Angesichts der Corona-Krise müsste es eher heißen: Der Mensch denkt, die Wirklichkeit lenkt. Die Wirklichkeit bricht durch die Krise brutal über uns herein, ohne uns zu fragen, wie viel wir von ihr ertragen, was wir im Hellen sehen wollen und wo wir sie gern verdunkeln würden. Ist dieses Denken angesichts von Corona noch aufgeklärt oder schon illusorisch? Gilt es an diesem Punkt nicht ehrlich zu sein? Die scheinbar kontrollierbare Wirklichkeit ist „völlig anders, dunkel und unverständlich: eine unerbittliche Präsenz, der wir nicht auskommen. Trotz all unserer Verkürzungen hat sich die Wirklichkeit als stärker erwiesen. Ihre Unbeugsamkeit fordert uns heraus und hat unser Ich fest im Griff und lässt uns erst nach und nach sehen und erkennen, was da geschehen ist.“ (Julián Carrón, Das Erwachen des Menschlichen. Reflexionen in einer schwindelerregenden Zeit, Fraternità di Comunione e Liberazione 2020, S. 27).

Ohne künstliche Sehhilfen

Angesichts der hereingebrochenen Wirklichkeit musste ich mich an meine erste Begegnung mit dem Meer erinnern. Voller Freude lief ich als Kind in das aufgewühlte Wasser und wurde dabei vom Anprall einer Welle so erwischt, dass ich meine Brille verlor und aufgrund meiner Sehschwäche zunächst fast blind zurückblieb. Doch im Nachhinein kann ich sagen, dass der Verlust der Brille mich sehend gemacht hat: die Wirklichkeit „Welle“ ist stärker als mein unwirkliches Gefühl der Sicherheit und Beherrschbarkeit. So lässt sich auch für die aktuelle Situation sagen, dass uns die Corona-Welle zunächst unsere künstlichen Sehhilfen aus dem Gesicht gerissen hat. Kann es sein, dass dieser Anprall und seine gewaltigen Auswirkungen zu einer neuen Kritik der „reinen Vernunft“ herausfordern? Müssen wir eingestehen, dass wir durch das Schlüsselloch eines rein rationalistischen Blicks die aktuellen Veränderungen, ja den Menschen als Ganzen, nicht ausreichend zu erkennen vermögen? Können die existenziellen Empfindungen dieser Tage wie Erstaunen, Unsicherheit und Angst die künstlich verengte Vernunft wieder weiten? Braucht die Vernunft durch die kritische Anfrage der Wirklichkeit vielleicht selbst eine Weitung, welche zur Öffnung auf die großen Fragen nach Welt und Mensch führen und auch mit der Welt des Glaubens in Dialog treten könnte?

I. Wirklich denken

Diese Fragen führen mich zu dem Leitwort „wirklich denken“. Damit meine ich nicht, dass da anderen ein aufrichtiges Nachdenken abgesprochen werden soll. Nein, es geht vielmehr um ein Denken entlang der Wirklichkeit, ein wirklichkeitsgemäßes Denken in Abgrenzung zu einem künstlichen Denken, das sich das Verständnis der Welt und des Menschen selbst nach dem Gusto der eigenen Theorie zurechtlegt. Wir müssen uns der Versuchung bewusst sein, in diese Falle zu tappen. Gerade der harte Einbruch der Corona-Wirklichkeit kann uns zu einer kritischen Selbstreflexion zwingen. Selbstkritisch muss die Vernunft anerkennen, dass es eine größere Wirklichkeit gibt als die eigenen Konstrukte, ja dass der kleine Virus die netten Theorien in den Staub geworfen hat und sich herzlich wenig darum kümmert, was wir Menschen uns da zurechtgelegt haben. Nicht wir begreifen und umgreifen die Wirklichkeit mit unseren Begriffen und Theorien, sondern sie umfasst uns und verlangt daher ernstgenommen zu werden. „Die Wirklichkeit ist mehr als die Idee“, so lautet ein zentrales Denkprinzip von Papst Franziskus, das sich auch in der Reflexion der Krise bewahrheitet (vgl. Evangelii gaudium, Nr. 231).

Charles Taylor: „spirituelle Unabhängigkeitserklärung“

Müssen wir vielleicht eingestehen, dass unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst ziemlich wirklichkeitsblind war und wir deshalb so erschüttert wurden? Deutet die aktuelle Situation vielleicht darauf hin, dass unsere modernen Dogmen von Souveränität und Unabhängigkeit in der gedachten Radikalität nicht glaubwürdig sind, sondern als fragwürdig bezeichnet werden müssen? Offensichtlich trägt die darauf aufbauende „spirituelle Unabhängigkeitserklärung“ (Charles Taylor, kanadischer Sozialphilosoph) nicht mehr und stellt so auch das moderne Lebensgefühl der Selbstbestimmung in Frage. Schonungslos decken das die beiden Psychologen und Couches Anke Houben und Kai Dierke im Podcast „Der achte Tag – Deutschland neu denken“ auf, wenn sie davon sprechen, dass die Krise unsere Ego-Illusionen zerstört. Ausgehend von der Frage, wie die gegenwärtige Krise den Blick auf uns selbst verändert, diagnostizieren sie das Ende eines Zeitalters der Selbsttäuschung und den Verlust von liebgewordenen Selbstgewissheiten wie Fortschritt, Kontrolle, Leistung und Erfolg. Ihre Diagnose ist zutreffend, in der jetzigen Situation eine wirkliche Sehhilfe. Doch der Lösungsvorschlag, den die beiden anbieten, bringt uns nur begrenzt weiter, weil er in der diagnostizierten Problematik selbst hängen bleibt. Den Ego-Illusionen werden zur Überwindung Ego-Taktiken gegenübergestellt, die sicherlich Hilfen zum Wachsen an der Krise geben können, aber doch der Logik des Egos verhaftet bleiben. Das isolierte Ego braucht eine Öffnung, etwas oder jemanden, der es herauslockt und befreit, ihm eine Beziehung anbietet, die das “Ich“ bereichert und transzendiert.

Hartmut Rosa: „spirituelle Abhängigkeitserklärung“

Im Kontext dieser Problematik erhält der Denkansatz des Soziologen Hartmut Rosa ein besonderes Gewicht und verhilft zu einem neuen Blick. Er plädiert für ein weiteres Welt- und Selbstverhältnis, das er als eine wechselseitige Beziehung denkt: „Eine solche Beziehung fasse ich mit dem Begriff der Resonanz. Sie bedeutet die Fähigkeit und Erfahrung eines ‚Berührtwerdens‘ durch ein Anderes, ohne fremdbestimmt zu werden. Sie bedeutet die Fähigkeit und Erfahrung, dieses Andere selbst zu berühren oder zu erreichen, ohne über es zu verfügen.“ Bereits vor einem halben Jahr schrieb er über die Chance eines solchen Ansatzes, er könnte „als regulative Gemeinwohlidee dienen und auf diese Weise einen Kompass durch die Umbrüche unserer Zeit liefern“ (DIE ZEIT, 25.07.2019). Ein solches Beziehungsdenken könnte die isolierte und daher zunehmend wirklichkeitsblinde Vernunft aus der Enge führen und ihr eine Aufklärung bringen. So plädiert Rosa selbst für eine „spirituelle Abhängigkeitserklärung“ und meint damit die Anerkennung eines selbstwirksamen Bezogenseins, das er in seinem Artikel und auch in dem Buch „Unverfügbarkeit“ weiter ausführt. Ausgangspunkt ist für ihn der Haltungswechsel vom Beherrschen und Nutzen hin zum Hören und Antworten, das in freier und kreativer Weise zu geschehen habe. Dabei stellt sich natürlich eine existenzielle Frage: Sind wir zu einem Haltungswechsel bereit, der auch zu einem anderen Denken unseres Menschseins führt?

Simon Strauß: Sehnsucht nach einem „wilderen Denken“

In diesem Denkansatz sehe ich etwas verwirklicht, was die Hauptperson im Roman „Sieben Nächte“ von Simon Strauß folgendermaßen festhält: „In den staubigen Archiven der Vernunft haben wir zu oft vergeblich nach Antworten gesucht auf Fragen, die nur auf offenem Deck, unter freiem Himmel gelöst werden können. Dass es auch ein Versteck gibt, in dem ein Geheimnis wohnt, über das man staunen kann und sich nicht den Kopf zerbrechen muss, das kann nur bestreiten, wer rein als Logiker denkt.“ Um der Ermüdung der Wahrheit entgegenzuwirken und der Bewunderung zu ihrem Recht zu verhelfen, fragt er kurze Zeit später: „Sehnt ihr euch nicht manchmal auch nach einem wilderen Denken?“ Doch was ist wilderes Denken, was könnten seine Sprengköpfe sein, die ein allzu selbstsicheres und festgefahrenes Theoriedenken zum Einsturz bringen und so ans offene Licht bringen könnten? Es sind Fragen! Ja, Fragen, die gerade durch Krisen neu hervorgerufen werden und einen Weg ins Freie bahnen können.

Rainer Maria Rilke: die Fragen „leben“

Was uns zur denkerischen Bewältigung der aktuellen Situation auch heute aufgetragen ist, hat Rilke in seinem Brief an Franz Kappus in großartiger Weise auf den Punkt gebracht: „Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die ihnen nicht gegeben werden können, weil sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben sie jetzt die Fragen, vielleicht leben sie dann allmählich, ohne es zu merken eines fernen Tages in die Antwort hinein.“ Und so gibt es Fragen, die es jetzt angesichts der hereingebrochenen Corona-Wirklichkeit zu „leben“ gilt. Was verhilft uns zu einer positiven Ent-täuschung unserer Ego-Illusionen? Aus welcher Kraft heraus kann ich mich selbst der ganzen Wirklichkeit stellen, auch wenn sie mich überfordert? Was hilft mir, zwischen einer illusorischen Selbstbestimmung und einer echten Freiheit, die der Wirklichkeit entspricht und solidarisch ist, zu unterscheiden? Und schließlich: Welche Gemeinschaft hilft mir bei der Beantwortung dieser Fragen und welche dient mir nur zur Flucht, um diesen nackten Fragen der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen?
Ich denke, es zeichnet bei aller Begrenztheit und Schwäche des Menschen seine Größe aus, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Dabei dürfen im Sinne der „Resonanz“ auch folgende grundsätzliche Fragen nicht ausgeklammert werden: Was kann der Denkhorizont des christlichen Glaubens dazu beitragen? Welche Inspiration bietet die durch Wirren hindurch gewachsene Synthese von Glaube und Vernunft, die für den emeritierten Papst Benedikt XVI. angesichts der gegenwärtig in der westlichen Welt dominierenden Kultur von entscheidender Bedeutung ist?
Ich bin überzeugt: Wo sich Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund diesen und anderen not-wendigen Fragen stellen, da werden auch neue Antworten gefunden. Im besten Fall werden es grund-legende Antworten sein, die ein Fundament für neuen Zusammenhalt und neue Solidarität in einer wankenden Zeit bilden können.

II. Wirklich glauben

Vielleicht macht sich bei dem Wort „wirklich glauben“ eine unangenehme Vorahnung breit: Auf diese großen Fragen könnte mundgerecht die einfache Lösung serviert werden: „Du musst nur an Gott glauben, dann wird alles gut.“ Doch diese Antwort der scheinbar Frommen ist so fragwürdig wie der italienische Zweckoptimismus, der seinen Ausdruck in den Worten „tutto andrà bene“ – „alles wird gut“ findet. Er ist wie das schön aufgesagte Glaubenssprüchlein ohne Fundament. Allzu schnell rutscht man in eine bloß konventionelle und unreflektierte Religiosität hinein, die mit der Weite und Tiefe des christlichen Glaubensverständnisses nichts oder nur wenig zu tun hat. Einen spannenden Zugang zum christlichen Glauben bietet das großartige Buch des italienischen Paters E. Ronchi mit dem provozierenden Titel „Die nackten Fragen des Evangeliums“. Er hebt darin hervor, dass es über 220 Fragen aus dem Mund Jesu bei etwas mehr als 30 Gleichnissen gibt. Damit wird deutlich, dass die Verkündigung des Meisters mehr auf provozierenden Fragen, als auf oberflächlichen Antworten in Form von Beruhigungspillen gründet. Jesus verabreichte kein „Opium fürs Volk“! Diesem Marxschen Vorwurf muss sich natürlich eine harmlose und künstliche christliche Religiosität zu jeder Zeit stellen. Doch heute trifft die Kritik vor allem die ganzen pseudoreligiösen und gesellschaftliche Heilsangebote. Dazu zählt gerade auch Netflix, deren Gründer R. Hastings inmitten der Corona-Krise verlauten ließ: „Die Leute wollen Unterhaltung, sie wollen fliehen können, wenn die Zeiten schwierig sind.“ An dieser Stelle darf man fragen, ob die Bundesregierung auch deshalb einen Bundesligastart ermöglicht hat, um das aufgewühlte Volk in ihren eigenen vier Wänden mit der „Fußball-Pille“ zu beruhigen. Dass diese Beruhigungs-Politik andere in Rage bringt, vor allem in Anbetracht des lange Zeit dürftigen Konzepts zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien in der Krise, ist verständlich.

Luigi Giussani: „stets intensiv das Wirkliche leben“

„Opium für das Volk“, „Brot und Spiele“, doch was meint wirklich glauben? Ein starkes Wort des italienischen Priesters und Pädagogen Don Giussani in seinem Buch „Der religiöse Sinn“ weist in die entscheidende Richtung: „Die einzige Bedingung, um jederzeit wahrhaft religiös zu sein, ist, stets intensiv das Wirkliche zu leben.“ Das Wirkliche zu leben, bedeutet im Augenblick, sich ehrlich den Fragen zu stellen, die die Wirklichkeit dieser Krise aufwirft: Was haben die letzten Monate mit meiner Lebenseinstellung gemacht? Welches Lebensgefühl bestimmt mich? Welche Werte haben sich vielleicht auch als haltlos erwiesen? Haben mich meine persönliche Gottesbeziehung und das Gebet gehalten – auch ohne den vielleicht gewohnten Gottesdienstbesuch? Kann ich mich wie der zweifelnde und glaubende Thomas mit meinem Leben den Wunden des auferstandenen Christus nähern und mich für eine Antwort öffnen? Nähern wir uns den deutlicher zutage tretenden Verwundeten unserer Gesellschaft? Nähern wir uns den Verwundeten – im Rahmen des Möglichen – mit den Kirchengemeinden? Oder warten wir nur darauf, dass der gewohnte und leider oft leblose kirchliche Betrieb wieder in Gang kommt und alles wieder ganz normal wird?

Die gegenwärtige Krise muss uns zur Grundsatzfrage unseres Glaubens führen. Dazu möchte ich von einer Begebenheit aus einer Gemeinde in unserer Gegend berichten. Es wird bei uns der schöne Brauch gepflegt, die Geschichte des hl. Martin zu spielen und anschließend einen Umzug durchzuführen. Dazu wurde jemand für die Rolle des Bettlers gesucht. Lange erklärte sich niemand dazu bereit. Es war eine intensive Suche nötig, bis sich schließlich doch noch jemand fand. Kurze Zeit darauf erzählte mir der Mesner, dass aus dem Abfalleimer vor der Sakristei eine Frau mittleren Alters regelmäßig Nahrungsmittel herausnimmt, so z.B. eben ein weggeworfenes Sandwich.

Diese beiden Begebenheiten machen mich betroffen, gerade wenn sie zusammen gedacht werden und man sich selbstkritisch fragt: Ist unser erstes Ansinnen die Abdeckung unseres Brauchtums und unserer „Spiele“, ohne dass wir dabei die traurige Wirklichkeit der nach Nähe und Unterstützung suchenden Menschen vor unseren Kirchentüren wahrnehmen? Im übertragenen Sinn können wir weiter fragen: Begnügen wir uns mit der geistlichen Speise unseres Glaubens für uns selber? Finden wir uns damit ab, dass die Suche unserer Mitmenschen nach „Seelenkost“ und innerer Stärkung zunehmend durch irrationale Esoterik und andere vermeintliche Heilsangebote abgespeist wird? Warum können die Suchenden nicht in unseren Gemeinden andocken? Wenn wir zu einem wirklichen Glauben gelangen möchten, müssen wir uns zunächst einige der Fragen Jesu zu Herzen nehmen, jeder ganz persönlich, aber auch die Gemeinden und die Kirche als Ganze: Was sucht ihr? Warum habt ihr solche Angst? Für wen haltet ihr mich? Siehst du diese Frau? Wie viele Brote habt ihr? (vgl. E. Ronchi).
„Wirklich glauben“ geht christlich nur in Gemeinschaft. Dazu braucht es zunächst einen synodalen Weg, und zwar ein gemeinsames geistgeführtes Unterwegssein und Suchen nach grundlegenden Antworten auf die Lebensfragen im Geist Jesu. Das muss allen scheinbar notwendigen Strukturfragen vorausgehen. Wir müssen uns zunächst des Grundes vergewissern, den Christus gelegt hat. Ohne diesen Grund kann niemand weiterbauen. Ohne ihn ist jede Reform zum Scheitern verurteilt. „Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,11).

Etty Hillesum: „wirklich denken und glauben wagen“

Auf meinem persönlichen Denk- und Glaubensweg war etwas entscheidend, das ich in meiner Jugendarbeit auch bei vielen jungen Leuten wahrnehme: die Sehnsucht, Menschen zu begegnen, die sich dem wirklichen Leben stellen, die aus einer Tiefe heraus leben und in etwas verwurzelt sind, das man nicht machen muss, sondern das man sich schenken lassen darf. Es geht darum, von einer verlässlichen Gegenwart begleitet zu sein, die die Angst besiegt und zu einem Leben ermutigt, das Freude schenkt, zu einem wirklichen Leben und Glauben mit und für andere inmitten dieser Welt. Ohne solche glaubwürdigen Zeugen im persönlichen Umfeld, in meiner Kirche, in der Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen und schließlich auch in der großen Gemeinschaft der Heiligen hätte ich den Weg in das Abenteuer des Glaubens nicht gefunden, der Halt und Inspiration schenkt, immer wieder von entfremdenden Einflüssen befreit und ent-täuscht und Mut macht, wirklich zu leben

Zu Beginn der Corona-Krise wurde mir durch ein Zitat eine weitere Wegbegleiterin geschenkt, der ich bereits vieles zu verdanken habe und die mir inmitten der Krise Mutmacherin geworden ist. Ich spreche von Etty Hillesum (1914-1943), einer jungen Jüdin, die ihren persönlichen Weg in einem berührenden Tagebuch festgehalten hat. Es wurde unter dem Titel „Das denkende Herz“ veröffentlicht. Der Leser wird in die Reifung ihres Denkens und Glaubens in den Jahren vor ihrer Deportation nach Auschwitz hineingenommen. Diese nicht einmal 30-jährige Frau hat inmitten des Grauens etwas gelebt und durchlitten, was bis heute fasziniert und auch motivieren kann: sie hat wahrhaft, wirklich, ganzheitlich gelebt. Vielleicht würde sie uns in der heutigen unsicheren Lage das ans Herz legen, was ihr Lebensgeheimnis war: wirklich denken und glauben wagen. „Lieben und hineinhorchen in sich und andere, und forschen nach den Zusammenhängen in diesem Leben und nach dir. Eigentlich ist mein Leben ein unabhängiges Hineinhorchen in mich, in andere und in Gott.“ Sie war von der Sehnsucht nach dem Ganzen, nach einem Leben als Einheit erfüllt und sieht glasklar die Gefahren einer beschränkten Lebensweise, wenn sie schreibt: „Und sobald man Teile davon ausschließt und ablehnt, sobald man eigenmächtig und willkürlich dies eine vom Leben annimmt, jenes andere aber nicht, dann wird es in der Tat sinnlos, weil es nun kein ganzes mehr ist und alles willkürlich wird“ (S. 128).

Die bereits angesprochenen Ego-Illusionen bringt sie mit anderen Worten auf den Punkt und deutet an, welcher Sprung Befreiung bringen kann: „Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, man muss sich innerlich von allen gewohnten Vorstellungen und Parolen befreien, jeden konventionellen Halt loslassen, um den großen Sprung in den Kosmos zu wagen, und dann, erst dann wird das Leben überreich und unerschöpflich, auch mitten im Leid.“ Unbestechlich erkennt sie, wie die Umstände immer wieder andere sein können und doch die entscheidende Frage bleibt: Wie trägt man das Leiden? „Das eine Mal ist es ein Hitler, ein andermal meinetwegen, ein Iwan der Schreckliche, ein andermal sind es Resignation, Pest, Erdbeben oder Hungersnot. Entscheidend ist letzten Endes, wie man das Leiden, das in diesem Leben eine wesentliche Rolle spielt, trägt und erträgt und innerlich verarbeitet, und dass man einen Teil seiner Seele unverletzt über alles hinweg rettet.“ Angesichts dieser existenziellen Lebensfragen geht sie immer mehr ins Gebet und formuliert in ihrem eindrucksvollen Sonntagmorgengebet, worauf es einzig ankommt: „ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott, und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum letzten verteidigen.“ Diese Klarheit im Glauben und Beten lässt sie auch das Widersprüchliche einer materialistischen Lebensauffassung erkennen: „Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihren Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist.“

Vielleicht wendet jemand ein, dass man so doch wirklich nicht leben könne. Mit dieser Anfrage hat sie sich selbst konfrontiert und schreibt: „Viele Leute würden mich eine wirklichkeitsfremde Närrin schelten, wenn sie wüssten, wie ich fühle und denke. Und doch lebe ich in der ganzen Wirklichkeit, die jeder Tag bringt.“ Schon gegen Ende ihres Lebens schreibt sie im Rückblick auf ihre Zeit im Durchgangslager Westerbork: „Wenn ich doch nur all das mit Worten bewältigen könnte, diese zwei Monate dort hinter Stacheldraht, die zu den intensivsten und reichsten Momenten meines Lebens gehören und die die letzten und höchsten Werte meines Lebens bestätigt haben.“

Die Offenbarung ihres Lebensgeheimnisses kündet sie bei einem Spaziergang ihrem Freund Ru und schreibt dazu in ihrem Tagebuch: „Es sei eine kindliche Eigenschaft, um derentwillen ich das Leben immer wieder schön finde, und die mir vermutlich hilft, alles so gut zu ertragen. Ru sah mich voller Erwartung an, und ich sagte, als sei es die einfachste Sache der Welt – was sie ja eigentlich auch ist: ja, siehst du, ich glaube an Gott.“

Diese junge Jüdin, die sich intensiv auch mit der christlichen Tradition beschäftigt hat, scheint mir eine Prophetin inmitten der Umbrüche unserer Zeit zu sein. Es verbietet sich eine vorschnelle Vereinnahmung für eine bestimmte Glaubensrichtung. Zunächst gilt es, sie auf dem persönlichen Leben- und Glaubensweg zu hören und sich von ihr infrage stellen zu lassen. Zugleich kann sie einem Mut machen zu einem Leben, das sich in einer verwurzelten Tiefe der ganzen, auch der überfordernden Wirklichkeit stellt.

Für den Christen wird gerade das zu einem existenziellen Glaubensbekenntnis: „Das Ja zu den Umständen wird so zum JA zu dem Geheimnis, das Fleisch geworden ist, zu dem Menschen Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist.“ (Julián Carrón) Der menschgewordene Gott will den Menschen aller Zeiten immer wieder ins Freie führen und ermutigt mich persönlich, in seinem Licht und aus seiner Kraft zu leben: In ihm und durch ihn und mit ihm als Christ der immer größeren Wirklichkeit gewachsen zu sein. Das bedeutet nun nicht, alle Antworten zu haben, sondern zunächst in der Gemeinschaft der Kirche einen „Resonanzraum“ zu haben, die Fragen zu durchdenken und Glauben zu entdecken, um so zusammen in tragfähige Antworten hineinzuwachsen. Dass dies gerade in den Umbrüchen der Corona-Krise in persönlichen Kontakten erfahrbar war, stimmt mich zuversichtlich bei allen beschleunigten und beängstigenden kirchlichen Einbrüchen dieser Zeit.

Schluss

„Alles beginnt mit der Sehnsucht“, so fängt ein tiefer poetischer Text von Nelly Sachs an, einer anderen großen jüdischen Denkerin und Glaubenden. Ein Neuanfang aus Corona ist in diesem Sinn möglich durch „resonante“ Menschen, die sich von den großen Denkern und Glaubenszeugen der Menschheitsgeschichte anstecken und inspirieren lassen, durch unterschiedliche Menschen mit noch unterschiedlicheren Backgrounds, die in Gemeinschaft wirklich denken und vielleicht auch neu glauben wagen. Jede Krise ruft zu neuer Entscheidung, ein veraltetes „weiter so“ würde ihr feige aus dem Weg gehen. Ich bin überzeugt: Ein Neuanfang ist möglich aus der Weisheit wirklich gereifter, meist älterer Menschen und aus der Sehnsucht junger Menschen, die sich im Roman „Sieben Nächte“ in den Worten äußert: „Ich will wieder den Wunsch nach Wirklichkeit spüren, nicht nur nach Verwirklichung. Ich will Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung. Die Sprengköpfe der Dekonstruktion haben wir lange genug bewundert, jetzt ist es wieder Zeit für ein paar große Architekten. Für Neubauten ohne Einsturzgefahr.“ Dazu braucht es ein solides Fundament, das meines Erachtens nur in einem neuen Miteinander von Glaube und Vernunft zu finden ist. Als Christ erinnere ich mich an den Abschluss der Bergpredigt, die übrigens auch für Etty Hillesum wegweisend war. Darin schildert Jesus auf dramatische Weise, wie es angesichts der Lebensstürme um den bestellt ist, der sein Lebenshaus auf Sand baut. Seine Jünger damals und heute lädt er deswegen dazu ein, auf Felsen zu bauen, indem sie auf seine Worte hören, sich infrage stellen lassen, aber auch seine Ermutigung aufnehmen und dann entsprechend handeln. „Wirklich denken und glauben wagen“ führt in Jesu Logik so zu einem Handeln, das Bestand und Halt verleiht und die kostbare Verheißung eines tragfähigen Miteinanders unterschiedlicher Menschen in sich birgt.

Daniel Rietzler
Jugendpfarrer Jugendstelle Weißenhorn

    Diese Webseite setzt sog. Cookies, hauptsächlich von Diensten Dritter. Lesen Sie dazu unsere Datenschutzerklärung. Mit dem Weiternutzen dieser Webseiten stimmen Sie dem Setzen dieser Cookies zu. Oder justieren Sie direkt hier:
    Click to enable/disable Google Fonts.
    Click to enable/disable Google Maps.
    Click to enable/disable video embeds.
    Datenschutz