Eine Feder schwebt in fließenden Bewegungen zu Boden. Ich sehe ihr nach, sehe sie im Sonnenlicht herabsinken. Wie eine Feder, denke ich. Wie eine Feder sollen wir sein, wenn wir Menschen begleiten.
Keine zusätzliche Last, nicht erdrückend und schwer. Kein Drängen oder festhalten. Kein Bestimmen, keine Richtung vorgebend. Sondern leicht, spielerisch, fragil. Erleichternd, befreiend, Luft und Raum gebend, eigene Bewegung ermöglichend. Zärtlich, weich, spürbar und auch vorsichtig und zurückhaltend.
Die Feder erinnert mich daran, wie wir als Begleiter:innen sein wollen. Nah und doch unaufdringlich, erleichternd und ermöglichend, ohne dabei zu lenken und zu manipulieren.
Seelsorgliche Begleitung angesichts der Missbrauchskrise
Ich mache mir oft Gedanken, welche konkreten Auswirkungen die letzten Jahre der Missbrauchskrise und damit verbunden auch die Erkenntnisse über systemischen geistlichen Missbrauch in der katholischen Kirche auf unser, auf mein tagtägliches Handeln im kirchlichen Raum hat. Dabei bin ich auf einen Text des Frankfurter Theologen Knut Wenzel gestoßen, in dem er überlegt, wie und wozu angesichts des Missbrauchs noch Theologie betrieben werden kann. Der Text ist auf der Internetseite feinschwarz.net zu finden. Ich möchte drei Gedanken herausgreifen und auf die seelsorgliche Begleitung übertragen.
NAH-FERN
Angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen mit Kirche, angesichts möglicher Opfererfahrungen, muss es auch unterschiedliche Gottesbedürfnisse geben. Manchen ist der nahe, der liebe Gott unerträglich geworden. Anderen gibt gerade dieser Trost. Diese scheinbar konkurrierenden Gottesbilder finden sich auch in der Sprache der Mystiker. Marguerite Porète spricht vom près-loin, vom Nah-Fernen. „Ferne und Nähe Gottes widersprechen einander nicht; sie sind trinitätstheologisch zum Begriff des einen Gottes vermittelt“, führt Wenzel aus. Diese Spannung, diese Weite Gottes dürfen wir offenhalten. Im Geist, der weht, wo er will (Joh 3,8), ist Gott zugleich allgegenwärtig und nah und doch entzogen, nicht greifbar.
Nah-fern sollen auch wir sein. Nah, wenn gerufen und gebraucht. Fern, wenn Abstand geboten ist, wenn der Auftrag beendet. Nah und fern zugleich, wenn wir zuhören und aufnehmen und dabei Eigenes und Wertung zurückhalten. Wenn wir uns selbst zurücknehmen.
ERMÖGLICHEN
Der biblische Gott begegnet uns auf verschiedenartige und wiederum widersprüchliche Weisen; diese sollen nicht einfach nivelliert oder übersehen werden. Jedoch gibt es eine Weise der Gotteserfahrung, die vor dem Hintergrund des Missbrauchs eine vertiefte Bedeutung, eine in unserer Zeit besondere Relevanz erhält: Es ist die des nicht bedrängenden Gottes. Der Elia nicht in Sturm, Beben und Feuer erscheint, sondern in einem „leisen, sanften Säuseln“ (1Kön 19,11-13). Karl Rahner hat dieses Nichtbedrängen als „freisetzend“ gedacht und es in Zusammenhang mit Gottes Allmacht gestellt. In seiner Allmacht schafft Gott Raum für den Menschen, Freiraum, Möglichkeitsraum. Und so folgert Wenzel: „Wenn Gottes Allmacht darin besteht, den Anderen zu würdigen, ihm den Vortritt zu lassen, ist seine Allmacht die Höflichkeit Gottes. In ihrer hierarchischen Verfassung ist die Kirche auf die fokussiert, die das Sagen haben. … Der höfliche Gott aber bereitet den Hof für die zufällig an den Zäunen und Wegrainen Angetroffenen. Die Zahl der Marginalisierten ist hoch, die Modi ihrer Marginalität vielzählig.“
Wir sind es, die die Menschen dort antreffen. Und an uns liegt es, ob sie Raum bekommen. Ob sie sprechen, sich entfalten, sich befreien dürfen. Ob wir ihnen diesen Raum auch gegen Widerstände offenhalten.
UNVERFÜGBARKEIT
Wenzel macht weiter darauf aufmerksam, dass Missbrauch als Begriff nicht nur verharmlosend ist, sondern auch sachlich fehlgeht. Es suggeriert, dass es einen rechten Gebrauch gibt, wo aufgrund der Selbstzwecklichkeit des Menschen von einem Gebrauch keine Rede sein dürfte. Hier geht es um die Unverfügbarkeit des Menschen, um seine Subjektwürde, deren Schutz uns wichtigstes Anliegen ist. Wenzel verbindet die Unverfügbarkeit des Menschen mit dem theologischen Begriff der Heiligkeit. In ihr sind wir Abbild des absolut Unverfügbaren, des Heiligen. Die Würde, die Heiligkeit (und damit das Heilsein) des Menschen ist zwar aus Gottes Perspektive nicht zerstörbar, wohl aber aus Erfahrungsperspektive des Menschen. Ihm oder ihr kann durch Traumatisierung der Zugang zur eigenen Heiligkeit verlegt sein.
Die Unverfügbarkeit des Menschen als etwas Heiliges, als seine Gottesbildlichkeit zu betrachten, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und sie gegen jeden noch so subtilen Angriff durch Manipulation und Verzwecklichung zu verteidigen, empfinde ich als unsere wichtigste Aufgabe. Vor dieser Maxime muss sich kirchliche Sprache noch stärker verantworten. Für unsere eigene Sprache und unser Handeln als Begleitende können wir uns nur selbst immer wieder vergewissern, dass wir der Heiligkeit des Einzelnen und damit seiner Selbstbestimmtheit verpflichtet sind.
Und was für eine schöne Aufgabe ist das doch: Menschen nah-fern dabei zu begleiten, wie sie einen weiten Raum betreten, den Raum ihrer eigenen Freiheit. Sie dabei so zu begleiten, dass wir irgendwann wieder überflüssig werden. Dass wir fern sind und doch das Bewirkte, das für sie Hilfreiche an der Begleitung nah bleibt.
Ich möchte diese Gedanken mit einem Lied beschließen. Ein Lied, wie es erklingen könnte, wenn Begleitung in diesem Sinne der Nah-Ferne, der Ermöglichung und der Achtung vor der Autonomie des Einzelnen geglückt ist. Es geht um Willi, eine Frau, die mit sich selbst spricht, bzw. ihre innere Stimme zu sich sprechen lässt. Eine Form der Selbst-Begleitung. Sie spricht sich Mut zu, sagt sich, was sie hören muss, um selbstbestimmt zu sein, um sich selbst annehmen zu können, um leicht und befreit sein zu können wie eine Feder.
Lied: Solange du dich bewegst, Wilhelmine Schneider
(290) Wilhelmine – Solange du dich bewegst (Offizielles Video mit Lyrics) – YouTube
Knut Wenzel, Wozu noch Theologie – angesichts des Missbrauchs (Teil1 und Teil 2). In: feinschwarz. Theologisches Feuilleton (feinschwarz.net) vom 19.10.2022 und 21.10.2022.
Wozu noch Theologie – angesichts des Missbrauchs (Teil 1) – feinschwarz.net
Wozu noch Theologie – angesichts des Missbrauchs (Teil 2) – feinschwarz.net
geistliche Gedanken zur seelsorglichen Begleitung
(ursprünglich vorgetragen bei einem Treffen der Krankenhausseelsorger:innen)
Dr. theol. Daniela Kaschke