Das Eigentliche
kommt einem entgegen,
sucht einen,
wenn man sich aufmacht
und geht. Karl Rahner
Nach meinem Eintritt in den Ruhestand im Juli 2019 machte ich mich zusammen mit meiner Frau für 52 Tage von Donauwörth aus auf den Weg in Richtung Santiago de Compostela. Ich war überzeugt davon, dass ein großer Übergang eine große Gestaltung benötige und dass die Zeit nach einem Berufsleben als Religionslehrer und Schulbeauftragter – ohne engen Terminkalender, To-do-Listen und evaluierfähiger Kompetenzvermittlung – eine andere werden wird.
Der Jakobsweg, dessen zweiter und dritter Teil noch bevor stehen, wurde für mich zu einer äußerst prägenden Erfahrung.
Als ich das Buch „Unverfügbarkeit“ las, wurde mir klar, dass Hartmut Rosa hier in wissenschaftlicher Manier, theoretisch anspruchsvoll mit sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit, etwas ins Wort gehoben hat, was der formale Kern meiner Wegerfahrung war.
Der Beginn des Weges war noch im gewohnt zielorientierten Blick auf die Welt, die es – systematisch vorgeplant – Kilometer um Kilometer mit der optimalen Ausstattung zu bezwingen galt. Mit der Zeit kam wie von selbst die Veränderung, der Übergang vom Eroberungsmodus zum Begegnungsmodus.
Mir begegneten Menschen aus unterschiedlichen Lebensverhältnissen und religiösen Orientierungen, Tiere, die viele Erinnerungen aus der Vergangenheit wachriefen, Bäume in ihrer aufrechten Standhaftigkeit und Blumen mit ihrer überschwänglichen Farbenpracht und Schönheit. Es kam zu Begegnungen mit den Phänomenen der Natur, vom niederprasselnden Regen bis zur sengenden Sonne. Der Dunst im Anblick des ersten Lichtes des Tages, die Sonnenstrahlen in mancher Waldlichtung und die Blicke in den weiten Horizont bleiben unvergessliche Anrührungsmomente. Besondere Berührungen hinterließen die uralten, geheimnisvollen, romanischen Kirchen in Frankreich und die vom Wetter gezeichneten Steinkreuze am Wegesrand, die von Pilgern mit Steinen üppig belegten waren. Letztere waren für mich ein wunderbares Beispiel eines lebensnahen, heilsamen, religiösen Ritus. Sie ließen mich erahnen, dass sich hinter jedem Stein eine seelische Last verbarg und riefen mir das Schriftwort in Erinnerung: Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid… (Mir kam auch der Gedanke, inwiefern wir katholischen Insider mit unseren gewohnten religiösen Riten nicht näher an die heute Suchenden Kirchenfernen kommen müssten, von denen man auf dem Weg sehr viele trifft.)
Mit einer Begegnung hatte ich nicht gerechnet, nämlich der Begegnung mit meiner eigenen Lebensgeschichte. Dieses Phänomen hörte ich auch aus den Gesprächen mit anderen. Vieles, was im Keller der Seele unaufgeräumt herum lag, wurde in diesem Modus bewegt und so manches bekam den ihm gemäßen Platz, wo es nicht mehr rumort oder im Wege steht, sondern sogar Kraftquelle werden kann.
Waren es die mannigfachen Begegnungen, die Gebete, die Lieder, die gesprochenen und geschriebenen Worte, die tiefe innere emotionale Berührung und tiefe Erfahrung ermöglichten oder waren es die unerwarteten Zeichen, die auf den Himmels verwiesen? Der Weg wurde hinter allem zu einer Begegnung mit Gott, anders als erwartet, schwer sagbar, aber intensiv.
Ein Bild aus einer Pilgerherberge ist mir in Erinnerung geblieben. Circa 20 Pilger sitzen vor dem Abendessen am Tisch und ein jeder schreibt in sein Pilgertagebuch. Ich hatte auch ein leeres Büchlein dabei und mir vorgenommen, täglich nur einen Satz aufzuschreiben. Es ist mir an keinem Tag gelungen, weil es stets vieler Sätze bedurfte, um das am jeweiligen Tag durch die Begegnungen Angestoßene einigermaßen zu fassen und in Worten zu bewahren. Das Resonanzgeschehen war unerwartet intensiv. Woran mag es gelegen haben?
Das Haben war auf das Wenige im Rucksack reduziert;
gerade dadurch entstand Freiheit, das Sein intensiv zu spüren.
Die Geschwindigkeit war auf das Maß der Schritte verringert;
so trug die Entschleunigung bei, tief zu empfinden.
Die gewohnte Umgebung, die sich in der Vergangenheit aufgebaut hat, war weit entfernt;
so wurden die Sinne geschärft, die Gegenwart intensiv aufzunehmen.
Die Reduktion der vielen beruflichen und alltäglichen Aufgaben auf das einfache Gehen
machte die Gedanken frei, um ganz in der Gegenwart präsent zu sein.
Abseits vom Lärm der Straße, vom Geschwätz der Unterhaltungsindustrie und dem Geschrei der Werbeslogans ermöglichte die Erfahrung der Stille, Nuancen der Umgebung wahrzunehmen und eine Konzentration zu erreichen, wie sie sich bei Atemübungen in meditativen Zusammenhängen einstellt.
Die äußere Vielfalt des früheren Alltags hinterließ oft innere Leere, die bewusst reduzierte Welt des Weges brachte einen unerwarteten inneren Reichtum hervor. Paradox. Dies alles führte zu einer Erfahrung intensiver Lebendigkeit.
Die „Magie des Weges“ wie manche sagen, zeigte Wirkung. Ich hatte größere Augen bekommen für die Wunder der Welt und für die Zeichen des Himmels. Was ich aufnahm, berührte mein Inneres und brachte es zum Schwingen, zur Resonanz. Das hat mich verändert (transformiert), auch die Welt sehe ich mit anderen Augen. Vieles bleibt offen, unverfügbar.
Sicher geht es nicht um ein „Entweder-Oder“, hier das normale Leben, dort der Jakobsweg, hier der Eroberungsmodus, dort der Begegnungsmodus. Im Alltag, meine ich, geht es um ein „Weniger von dem einen und ein Mehr von dem anderen“. Insbesondere dort, wo die entscheidenden Berührungspunkte mit dem Leben sind, ist der Modus zu favorisieren, der von Berührung, Resonanz, Transformation und Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist.
Schon heute freue ich mich darauf, den Jakobsweg fortzusetzen, den ich erst zu einem Drittel gegangen bin, um auf meinem inneren Weg weiter zu gehen, der in mir das anrührt und zum Schwingen und Verändern bringt, was das Leben im Grunde ausmacht.
danke für die Reflexion des Pilgerns. Die Analyse ist sehr fundiert und tiefgründig. Die Präsentation in Bäumenheim war eindrücklich und angenehm unaufgeregt.