Unverfügbarkeit.
Das gleichnamige Buch von Hartmut Rosa war mir wärmstens empfohlen worden. Ich nahm mir den Kauf vor, bis zur Lektüre verstrichen Monate. Schon das Öffnen des Zeitfensters fürs Lesen – nicht so einfach verfügbar.
Manches, was Hartmut Rosa schreibt, kam mir vertraut vor, Heimatgedanken in einem sprachlich neuen Gewand. Beim Thema „Unverfügbarkeit“ denken Theologen an das Geheimnis Gottes, denken an die Gottebenbildlichkeit des Menschen, an seine Würde, erinnern sich an den kategorischen Imperativ, der darauf hinweist, dass Personen nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt werden dürfen, sondern immer auch als Zweck an sich. Warum? Weil Menschen „mehr“ sind, mehr als Handlanger, nützliche Idioten, Stimmvieh… In uns Menschen spiegelt sich etwas von Gottes stets neuem, lebendigem Wesen, von seiner Weite, eben – seiner Unverfügbarkeit. Diese Unverfügbarkeit verbindet Rosa Harmut mit weiteren gedanklichen Koordinaten. Er beschreibt, wie der menschliche Impuls, sich die Welt untertan zu machen (Gen 1,28), die Welt zum Aggressionspunkt macht. Wir bemächtigen uns ihrer, versuchen, sie in unseren Zugriff zu bekommen. Was dabei verloren geht, ist unser lebendiges Mitschwingen mit der uns umgebenden Mitwelt, die Resonanz.
Die Welt wird uns tot und leer, „starr und stumm“ (nach einem Gedicht von Rainer Maria Rilke, „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“). Hartmut Rosa beschreibt diesen Bemächtigungs-Sprech als Versuch, über die Welt auch begrifflich zu verfügen, und bezieht sich dabei auf Theodor W. Adorno, der diesen Vorgang als identifizierendes Denken gebrandmarkt hat. „Als identifizierendes Denken lässt sich die Vorstellung verstehen, man habe eine Sache – ein Ding, ein Ereignis, einen Prozess – ihrem Wesen nach erfasst und damit geistig verfügbar gemacht, wenn man sie auf den Begriff gebracht hat. Dabei übersieht man aber, dass immer ein Riss, ein Spalt zur Welt bzw. zu dem anderen, das man zu erfassen versucht, bestehen bleibt, und dass gerade und nur in diesem Riss, in dem was unverfügbar bleibt, was sich entzieht, wirklich Erfahrung und Lebendigkeit aufscheinen kann“ (Harmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 20194, 111).
Als Seelsorgerin in einer Psychiatrie habe ich immer wieder versucht durch Zuhören diesen Resonanzraum zu eröffnen, zu versuchen einen Zwischenraum entstehen zu lassen, der die Menschen aufatmen lässt und die Gesprächspartner etwas löst aus dem Gefängnis von Etikettierungen, Selbstverurteilungen… Auch bei der Ausbildung von Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit ging es mir darum und geht es mir darum, die Menschen wegzulocken vom vorschnellen Bescheid wissen, herzensharten Besserwissen, von unbedachten Kommentierungen und falschen Tröstungen, von langatmigen Parallelerzählungen. Eine Haltung der Offenheit versucht vorsichtig zu erkunden, wie die Welt aus der Sicht des Gesprächspartners aussieht. In dieser Haltung wird eher zurückhaltend nachgefragt und vorsichtig Interesse gezeigt, als in irgendeiner Richtung Erwartungsdruck auszuüben.
Im Buch Hiob wird die dramatische Geschichte von den Verlusten des Hiob erzählt, der alles verliert: Reichtum, Kinder, Gesundheit. Seine Freunde setzen sich zu ihm in den Staub, auf den Boden, betroffen. Es ist dieses Schweigen, das tröstet. Worte moralischer Beurteilung können in dieser Situation nur verletzen. Doch dazu kommt es: Nach sieben Tagen bohren die Freunde nach, ob es nicht doch Fehlverhalten des Hiob gewesen sein könnte, das zu dieser „Strafe“, geführt habe. Oder sie versuchen dem Elend einen pädagogischen Sinn aufzudrücken. Die Antwort des Hiobbuches: Wir können Gott nicht in die Karten schauen. Es gibt Schicksalsschläge und Wendungen im Leben, die sich dem vereinfachenden „Dem Guten geht es gut, wem es nicht gut geht, der hat selber Schuld“ – entziehen. Eine alte Geschichte?
Ich hatte mich heuer mit einer belastenden Diagnose herumzuschlagen. Eine OP wurde nötig und eine umfängliche Nachbehandlung. Das ganze zeitgleich im ersten Corona-bedingten Lockdown und mit dem Aufgeben meiner langjährigen Arbeitsstelle, der ich zutiefst verbunden war. Viel Umbruch auf einmal! In den Jahren davor hatte ich große Pilgerreisen unternommen. Und so versuchte ich die Erfordernisse jener Monate in der gleichen Haltung anzugehen: Schritt für Schritt, ohne mich selber zu überholen. Gottlob gab es in der Familie und im Umfeld Menschen, die in der Lage waren diesen Rhythmus zuzulassen und mitzugehen. Aber es gab auch die anderen, die sich keine Zeit nahmen sich „in den Staub zu setzen“, sondern ihre fertigen und schnellen Kommentare abschossen oder wie Post-its empathiefrei an die Ereignisse meines Lebens klebten.
„Die Welt als Aggressionspunkt“ – so überschreibt Rosa sein erstes Kapitel. Ja, verbale (Mikro-)Aggression ist alltäglich (geworden) in Familie und Öffentlichkeit (ich schreibe diesen Text in Stunden, da die Stimmen in Amerika ausgezählt werden und wir im Umfeld der Präsidentschaftswahl Tag für Tag mit erschreckenden verbalen Aggressionen konfrontiert werden). „Die Welt als Aggressionspunkt“ spiegelt m.E. das Lebensgefühl unserer Epoche wieder, einer Epoche, in der Einflussnahme und Dominanz prägende Themen sind.
Aggression, Abwehr, Geringschätzung liegen gewissermaßen an dem einen Ende der kommunikativen Skala, Resonanz am anderen. Resonanz entwickelt sich, wenn wir mit dem Herzen zuhören, wenn wir ein paar Schritte versuchen in den Schuhen des anderen zu gehen, wenn wir uns für den anderen interessieren, wenn wir wenigstens für kurze Zeit die Selbstbehauptung aufgeben und uns stattdessen auf unser Gegenüber einlassen. Resonanz kann sich entfalten in einem Zwischenraum, der von Respekt geprägt ist, von Wohlwollen, Akzeptanz, Wertschätzung. Nicht-Akzeptanz blockiert Resonanz. Zeitdruck erschwert Resonanz. Desinteresse, Gleichgültigkeit, Narzissmus verhindern Resonanz. Resonanz ist unverfügbar. Ich kann sie nicht einfach „machen“. Ihr wohnt ein Aspekt inne, den Theologen „Gnade“ nennen.
Ich bin dankbar für die Buchempfehlung von Martin Knöferl und die inspirierenden Überlegungen von Hartmut Rosa. Seelsorgenden und SupervisorInnen und vielen weiteren Berufen liegt gelingende Kommunikation am Herzen. Natürlich möchte ich als Supervisorin zu Lösungen beitragen, doch lassen sich diese nicht einfach – quasi linear – anstoßen. Insofern enthält das Herausschälen des Kriteriums der Unverfügbarkeit auch einen Impuls zur Bescheidenheit. Als SupervisorInnen können wir zuhören, fragen, reflektieren, anbahnen, Modelle anbieten, die Wahrscheinlichkeit für Lösungen erhöhen. „(Er)lösen“ können wir nicht. In meiner Tätigkeit als Supervisorin möchte ich verstehen und habe immer wieder erlebt, wie diese Haltung des Verstehen Wollens ertragreich wurde. Aus den Ausführungen von Hartmut Rosa nehme ich als Mahnung mit bei allem „Verstehen“ (wollen) gleichzeitig den „Spalt zur Welt“ im Blick zu behalten: Leben ist mehr, als was wir über das Leben sagen können. Das Ganze entzieht sich uns und bleibt UNVERFÜGBAR.
Adelheid Weigl-Gosse
Supervisorin, Klinikseelsorgerin
Kaufbeuren