Lieber Martin,
auf deine Empfehlung, die du mir mit großer Begeisterung gegeben hast, habe ich Rosa, Unverfügbarkeit, gleich gekauft und gelesen.
Ich kann gut verstehen, warum du es so warm empfiehlst.
Am Anfang tat ich mich schwer, mich in die soziologische Sprache einzufinden. Aber dann flutschte es!
Ich möchte einfach einige Gedanken, die mir spontan einfielen, dir schreiben. Sie haben alle mit dem Thema Resonanz und Verfügbarkeit zu tun.
Beide Themen haben mich eigentlich vom Studentendasein bis heute beschäftigt.
So habe ich z.B. mit Gerda Boysen einer norwegischen Therapeutin gearbeitet, einer Reichschülerin. Sie hat mit Resonanz im Magen- und Bauchraum mit dem Stethoskop gearbeitet, um psychische Prozesse zu beeinflussen.
Oder Stephano Sabetti, einem italo-amerikanischen Therapeuten, der seine Therapie auf der Resonanz zwischen Klient und Therapeuten aufgebaut hatte.
Beim Lesen von Rosa hatte ich manchmal das Gefühl, dass die ständige Ausweitung der Verfügbarkeit mir die Luft wegnimmt. Dieser Prozess schien mir unumkehrbar, alles wird mehr reglementiert, ist mehr auf Sicherheit bedacht. Das Unverfügbare bleibt mehr und mehr auf der Strecke – außer es kommt entartet als Monster.(Corona-Virus)
Meine Wirklichkeit sieht anders aus: Das Prinzip der Resonanz heißt für mich, die Gunst der Stunde, den kairos zu nutzen, nicht gegen die Verfügbarkeit, z.B die Bürokratie, die Institution…. anzukämpfen.
Ein Beispiel aus meiner Zeit:
Dompfarrer Beis hatte Vorstellungen über die KLINIKSEELSORGE AM Zentralklinikum in Augsburg, die meinen Ideen sehr entgegenkamen. Das Ausbildungskonzept war stark geprägt von Psychologie und Psychotherapie, z.B. Gesprächstherapie. Dank der Resonanz zwischen Dompfarrer Beis, dem Team der Krankenhausseelsorge am ZK gelang es uns die Widerstände im Ordinariat zu überwinden und schließlich auch Bischof Stimpfle zu überzeugen.
Die Auseinandersetzung zwischen Amt und Charisma hat wieder eine fruchtbare Gestaltung gefunden.
Dieses Thema hat in der Kirche viele Namen, im AT z. B. Königtum und Propheten.
Oder ein anderes Feld: das Kirchenrecht.
In der Präambel ist von der „Epikie“ die Rede, d.h. ein Gesetz aus guten Gründen außer Kraft setzen. Prof. Mörsdorf, unser damaliger Kirchenrechtler und Konzilstheologe, hat mit uns Studenten ein Semester daran gearbeitet und uns so große Freiräume eröffnet.
Ich glaube, der „Unverfügbare“ sieht viele Möglichkeiten zu leben und das Leben weiterzugeben – wenn er nicht in Versuchung gerät zu kämpfen.
Und es wird immer unverfügbare Menschen geben. Das ist meine Hoffnung und Zuversicht – auf Grund meiner Kenntnis von Geschichte, auch der Kirchengeschichte. Viele Heilige sind Zeugnis dafür.
Lieber Martin, ich danke dir für die Anregung, das Büchlein zu lesen. Du siehst, es hat bei mir eine Fülle von Gedanken wachgerufen. Freilich sind sie ungeordnet – wie bei Unverfügbaren oft vorkommt.
Da fällt mir noch ein Gedanke ein:
Die List (bei den Griechen z. B. Odyseus eine Tugend!) ist eine gute Möglichkeit für den Unverfügbaren.
Hubert Kranzfelder
Ehemaliger Krankenhauspfarrer am Klinikum
Leiter Haus Tobias
Augsburg
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