Pater Klaus Mertes SJ zu: Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, München 2022, 74 S.
In einer Gesellschaft, die sich im Zustand des „rasenden Stillstandes“ befindet, haben es Resonanzen schwer. Sie brauchen Räume, in denen Herzen überhaupt wieder anfangen können zu hören und zu schwingen (vgl. 1 Kön 3,9: „Gib mir ein hörendes Herz …“). Solche Räume bieten Religionen, insbesondere die Kirchen, sogar ganz besonders die katholische: „Ich habe schon einmal darüber geschrieben, ob insbesondere die katholische Religion als Konfession möglicherweise über Resonanzqualitäten verfügt, und ich würde sagen: Ja! Über ganz viele sogar, und ich glaube, fast über mehr oder jedenfalls andere als der Protestantismus, und auch über leiblichere“ (S.69) Und Rosa zählt sie auch auf (S.70-74). Er wendet sich gegen den innerkirchlichen Trend zum verschüchterten Verstummen über die eigenen Schätze (S.25f), gerade auch bei kirchlich engagierten Personen und professionellen Theologen.
Rosa legt Wert darauf, dass er als Soziologe und nicht als „irgendwie religiöser Mensch“ (S.26) spricht. Seine soziologische Analyse lautet: Die moderne Gesellschaft befindet sich im Beschleunigungszwang. Sie muss Wachstum generieren, um den Status Quo zu halten. In der Zukunft winkt uns keine bessere Welt mehr. Dafür häufen sich die Krisen, die uns von hinten einzuholen drohen. Der „Sinn für Vorwärtsbewegung“ (S.46) ist verloren gegangen, nachdem es ja tatsächlich eine Zeit lang Fortschritte gegeben hat und Ziele erreicht wurden. Doch nun laufen wir nicht mehr einem Ziel entgegen, sondern werden von den Problemen gejagt, die wir selbst geschaffen haben. Diese Logik des rasenden Stillstandes stiftet nun „systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt“ (S.41). Die Todo-Liste explodiert. Der steigende Energieverbrauch erschöpft nicht nur das Klima, sondern auch die menschliche Psyche. Der Aggressionspegel steigt, Schreien und Anschreien ersetzen Dialog und Argumentieren. Das gefährdet die Demokratie, denn „Demokratie funktioniert im Aggressionsmodus nicht.“ (S.53) Sie braucht die Resonanzräume, in denen überhaupt erst wieder „aufgehört“ wird – in der ganzen Doppeldeutigkeit dieses „großartigen Wortes“ (S.56): Anhalten, stoppen, aber auch aufhorchen, nach oben hin lauschen.
Rosas Text basiert auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022. Gerade die Kirchen sind es und müssen es sein, die über ein Reservoir an Übungen verfügen für die Einübung in das Hören des Herzens. Wichtig ist, dass Rosa hier das Wort vom „Einüben“ wählt. Hörende Herzen fallen nicht einfach vom Himmel. Das liegt ganz auf der Linie der ignatianischen Exerzitien. Auch sie gehen davon aus, dass man „Einstellungen der Seele“ (GÜ Nr.1) einüben kann: Indem die Person, die die Übungen gibt, zugleich bei sich selbst in der Mitte der Seelenwaage bleibt, hilft sie der Person, die die Übungen nimmt, bei sich selbst in die Mitte der Seelenwaage zu kommen. Dann gerät etwas ins Schwingen – so wie bei der Lektüre von Rosas Würzburger Rede.
Klaus Mertes Stimmen der Zeit, Frühjahr 2023