Wunden

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Horizontale und vertikale Linien deuten das Gesicht eines Leidenden an. Woran leidet dieser? Es könnten die Linien eines Labors sein, die Linien die am Bildschirm eines technischen Apparats zu sehen sind. Ein Apparat, der genau aufzeichnet, Daten sammelt für die Analyse. Als Grundlage für Optimierungsversuche. Der In- und Output errechnet, belastbare Zahlen liefert und dem Menschen ausspuckt, wie die weitere Vorgehensweise auszusehen hat. Daten, Zahlen, Fakten. Algorithmen. Sicherheit, Errungenschaft, Fortschritt. Ja. Wichtig. Und doch lassen sie oft das menschliche Gesicht nicht zum Vorschein kommen, sondern lassen es unter sich leiden.

Linien führen nach oben, zur Seite, nach unten. Wieder und wieder. Eine Skyline entsteht. Hochhaus reiht sich an Hochhaus, lassen Menschen in Betonwüsten verschwinden, vereinzelt in kleinen Wohnungen, stapeln sich so Menschen unsichtbar übereinander. Anonymität, Vereinzelung, Einsamkeit in der Masse. Gesichter verschwinden hinter Masken. Zum Schutz. Auch das wichtig. Und auch das: getrennt.
Dieses Gesicht zeigt Wunden unserer Welt und unserer Zeit.

Das Wort Wunde kommt aus dem Althochdeutschen wunte welches die Bedeutung ‚Wunde‘ ‚Schlag‘, und ‚Verletzung’ hat. Das Lateinische vulnus leitet sich vom indogermanischen wen, ‚leiden‘ ab. Griechisch heißt es trauma, so wird es in der Medizinsprache verwendet. Übrigens sowohl im physischen Sinne, also bei der Verletzung von Haut und Gewebe als auch im psychischen Sinne, wenn von einem Psychotrauma die Rede ist. Eine Wunde wird im Regelfall durch äußere Gewalt zugefügt, kann aber auch Folge einer Krankheit sein.

Wundheilung ist ein natürlicher Prozess, der meist schon Minuten nach Entstehen der Wunde einsetzt. Vollständige Wundheilungen gibt es eher selten. Oft bleibt eine sichtbare Narbe zurück. Die Rolle des Arztes bei der Wundheilung ist es, durch die Herstellung äußerer Bedingungen (Verband, Schmerzmittel, Nähen) Beschwerden zu lindern, Komplikationen oder Infektionen vorzubeugen und eine Verzögerung der Wundheilung zu verhindern. Eine echte Wundheilungsbeschleunigung gibt es noch nicht.

Auch die Seele hat ihre Wunden. Das Leben fügt uns Stöße zu, zerreißt etwas in uns oder unseren Vorstellungen. Manchmal entstehen Wunden allmählich, weil Lebensbedingungen so misslich sind.
Und auch die Seele kennt Heilungsprozesse, die einerseits wie von alleine beginnen, andererseits Beachtung, Begleitung und Linderung benötigen. Damit die Wunde aber heilen kann, muss man sie zuerst zeigen. Joseph Beuys schuf 1976 eine Installation mit dem Titel „Zeige deine Wunde“. Er sagt dazu: „Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will. … Und es gibt immer auch „Andeutungen, dass die Todesstarre überwunden werden kann […]. (Et)was ist angelegt, das, wenn man genau hinhört, einen Ausweg weist.“

Ich muss die Wunde zeigen. Zunächst mir selbst. Eingestehen, dass ich nicht unverwundbar bin. Hinschauen, dort, wo es weh tut. Das ist nicht so einfach. Wie oft will man Stärke zeigen, beißt die Zähne zusammen. Vielleicht haben Sie diese Sätze schon gehört (oder gesagt): „das muss man nicht nähen, damit gehe ich nicht zum Arzt, das ist doch nichts Großes“. Und gleichzeitig wissen wir, dass Wunden, die nicht versorgt werden, zu Komplikationen führen können. Eitern, sich entzünden, verwachsen und am Ende eine deutlich sichtbare Narbe zurücklassen. Weil wir der Versuchung widerstehen wollen, uns wichtig zu machen, etwas größer zu machen, als es ist. Weil wir den Satz „Indianer kennen keinen Schmerz“ in uns eingebrannt haben und man Schwäche lieber nicht zeigt, deshalb spielen wir es herunter. Auch vor uns selbst.

Was spräche dagegen, die Dinge so zu sehen wie sie sind?
Eine Wunde ist eine Wunde. Punkt. In unserem Leben sind so viele Ausrufungszeichen (Du sollst! Du darfst nicht! Du musst aber! Das kann doch nicht…!) und ebenso viele Fragezeichen (Was denken die anderen? Der Arzt wird doch etwas Besseres zu tun haben? Kann ich wirklich…?), manchmal sind es auch drei Punkte und etwas verläuft im Sand. Aber ein Punkt? Ein einfacher Satz, eine schlichte Feststellung, eine Aussage über meine je eigene Wirklichkeit? Ohne Wertung, ohne vorauseilende Rechtfertigung? Ohne Rückzug? Ich kann einen Punkt setzen hinter meine Erfahrung. Hinter den Satz „Ich habe eine Wunde“. Dann kann dieser Satz nachwirken, seine Wirkung entfalten. Denn es geht weiter nach diesem Punkt. Ich sehe mir die Wunde an und entscheide, ob ich sie auch einem anderen zeigen möchte. Jemandem, der heilen kann. Je nach Art der Wunde können das unterschiedliche Personen sein. Ein Arzt, ein Therapeut, ein Seelsorger, ein Freund. Wenn sich meine Tochter das Knie aufschlägt, läuft sie zu mir und zeigt mir ganz selbstverständlich die Wunde. Mein Ansehen, mein Trösten, mein Kümmern macht es schon besser. Manchmal können wir uns um uns selber kümmern, uns selbst sehen und trösten, manchmal braucht es das Zeigen und das Gesehen werden durch einen anderen. Manchmal braucht es mehr als das. Das finden wir heraus, wenn wir uns von Frage- und Ausrufungszeichen lösen und den Punkt wirken lassen.

Bis jetzt habe ich im fließenden Übergang von körperlichen und seelischen Wunden gesprochen. Der Umgang mit körperlichen Wunden scheint passend als Bild für seelische Wunden. Seien es kindliche Verlust- oder emotionale Mangelerfahrungen, die es uns heute schwer machen Vertrauen in andere Menschen oder das Leben allgemein zu haben, seien es Wunden, die zerbrochene Beziehungen, Freundschaften, Verlust durch Tod oder Entfremdung bei uns ausgelöst haben, oder Erfahrungen des Scheiterns, des Ungenügens, des Nichterreichens, das Platzen von Träumen, Verlust von Lebenskraft durch Krankheiten, Lebensängste, die über die Jahre ihre Spuren hinterlassen haben. All das schlägt Wunden, zeichnet uns, verletzt, lässt etwas zerbrechen oder zerreißen.

In Japan gibt es eine Kunst mit Scherben umzugehen. Sie nennt sich Kintsugi. Übersetzt: Goldenes Zusammensetzen. Wenn ein Gefäß, eine Schale oder eine Vase zerbricht, dann wirft man sie nicht weg, sondern man repariert sie. Das allein ist schon ein Bild. Etwas kann wieder ganz gemacht werden, man muss es nicht entsorgen, weil es nicht mehr funktioniert.

Dabei bleibt es nicht. Die Risse, die nach dem Kleben noch zu sehen sind, werden nicht einfach überpinselt. Es wird nicht so getan, als wäre nichts gewesen. Im Gegenteil. Genau an den fragilen Stellen, dort, wo der Bruch war, wird Gold aufgetragen. Die Risse werden vergoldet. Sie gehören jetzt dazu und nicht nur das: Sie erhalten Wert, Bedeutung, sogar Glanz und machen die Schale oder Vase zu einem einzigartigen Kunstwerk. Goldene Narben.

Kintsugi ist eine Philosophie die von Perfektionismus und normierten Idealen lässt. Die zugleich für Mut steht. Mut sich dem Zerbruch zu stellen. Ihm Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken, denn für diese Reparaturkunst muss man sich auf einen längeren Prozess einlassen. Dann kann Kintsugi die Kraft entfalten, in den Scherben nicht das Ende, in der Wunde nur den Verlust zu sehen, sondern auch einen neuen Anfang, eine Wendung. Verwandlung. Offene Zukunft.

Vielleicht haben wir einmal geglaubt, dass sich Leben nach einmal gefassten Vorsätzen und Vorstellungen planen und dann linear durchziehen lässt. Und natürlich machen wir alle die Erfahrung, dass es so nicht geht. Welches Zeichen setzen wir nun im Angesicht der Wunde, der Scherben und Fragmente? Ein Ausrufungszeichen, das noch einmal drauf haut und besagt, „das war alles nichts! Alles ist vorbei!“ Oder ein Fragezeichen hinter dem grübelnden „Was wäre gewesen, wenn?“ „Hätte ich nicht …?“ Oder drei Punkte, die das Nichtweiterwissen in bleibende Starre überführt? … All das kann sein, darf sein. All das hat Raum.
Gebe ich auch dem Punkt eine Chance? Der Punkt sagt: Es ist wie es ist. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Ich nehme meine Verletzung wahr. Sammle die Scherben und setze sie behutsam – und vielleicht mit Hilfe – wieder zusammen. Dann kann auf den Punkt auch ein Doppelpunkt folgen: Der Schritt ins Neue. Ein einzigartiges, goldverziertes Kunstwerk entsteht aus den Puzzleteilen meines Lebens. Was vorher zusammenhangslos wirkte, verloren, das wird zu einer neuen Gestalt verbunden. Es ergibt ein neues Bild, es erschließt sich mir ein neuer Sinnzusammenhang. Das ist ein Unikat. Ein Mosaik, ein Meisterstück aus Altem und Neuem, das die Brüche nicht kaschiert. Die Narben bleiben. Doch es sind Narben aus Gold.

Dr. Daniela Kaschke

Exerzitienhaus Leitershofen

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