Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit?
Es war wie der Einbruch einer anderen Realität.
Etwas Scheues, Seltenes, das uns besuchen kommt, das sich herabsenkt und die Welt um uns verwandelt, ohne unser Zutun, als unerwartetes Geschenk.
Der Schneefall ist geradezu die Reinform einer Manifestation der Unverfügbaren:
Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg.
Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen.
Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf Schnee zu sein.
Vielleicht sehnen sich deshalb so viele Menschen – nicht nur die Kinder – nach ihm, vor allem an Weihnachten,
In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie in einer Kristallkugel:
Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung und das Begehren, Welt verfügbar zu machen.
Lebendigkeit, Berührung und wirkliches Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.
Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Einführung, Residenzverlag
Martin Knöferl