Wenn man heutzutage von einem Menschen sagt, er habe das rechte Gespür für etwas, gerät man in einer auf den ersten Blick rationalen Denkweise leicht in Gefahr, in eine esoterische Ecke abgeschoben zu werden. Die Zeiten sind natürlich längst vorbei, in der unser etwas betagter Nachbar, der Grandl Toni halb jämmerlich, halb stolz verkündete, dass es zu einem Wetterumschwung kommen würde, weil er es schon wieder an seinem Rheuma spüre. Im Gegensatz zu einem leider heute bestimmenden behavioristischen Denken ist das Gespür sicher großenteils auch emotional bestimmt, aber auch ganzheitlicher als etwa ein weitgehend auf Messbarkeit und Quantifizierbarkeit verengtes Denken.
So anerkannte Ärzte wie den langjährigen Vereinsarzt des FC Bayern und Nationalmannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt wird von Spielern aber auch höchsten medizinischen Kapazitäten ein einmaliges Gespür für die Diagnose und das Erspüren des eigentlichen Grundes von Verletzungen zugesprochen. Diese Fähigkeit ist gerade im Bereich der Physiotherapie eine ganz entscheidende.
Ich habe die Heilpraktiker-Legende, den Kernzl, persönlich noch schätzen gelernt, der ja auch die deutschen Eishockeyspieler mit seinem Gespür oft vor langwierigen Gipsverbänden bewahrte. Gespür hat also auch etwas mit Fingerspitzengefühl zu tun, das nicht durch eine noch so genaue anatomische Kenntnis ersetzt werden kann. Vor allem im zwischenmenschlichen Bereich spielt das Gespür eine große Rolle.
Und da wissen wir, dass noch so exaktes soziologisches oder psychologisches Detailwissen Gespür nicht überflüssig machen. Gespür ist in gewisser Weise eine Gabe, es ist aber auch ein wertvolles Ergebnis der Welt- und Menschenerfahrung von frühester Kindheit an. Das Kleinkind erspürt vor allem mit dem Tastsinn Wärme, Nähe, Zuwendung und Liebe. Gespür ist ohne lebendiges Erfahren, Erleben mit dem ganzen Körper, mit Leib und Seele nicht möglich.
Zum Gespür führen Hören, Lauschen genauso wie etwas Erschmecken oder Erriechen, Erschnüffeln. Meister des Gespürs in der Literatur waren Winnetou, der mit Hilfe der kleinsten Spuren etwas aufspüren konnte, oder Sherlock Holmes, der anhand von winzigen Spuren schwierigste Fälle löste. Die Geschichte der Pädagogik ist voll von Anregungen, von Anfang an das Gespür der Kinder zu schulen, stärken und so weiter. Ein gesundes Kind ist aber auch ohnehin ständig „auf der Spur“.
Und da zeigt sich wieder einmal dieses unglaubliche Versagen unserer Bildungspolitik, die weitgehend diese Seite des Menschseins und Menschwerdens übersieht. Statt den seit Jahren bekannten Gefahren, die durch stundenlange Bewegungslosigkeit, einseitigen Medienkonsum entstehen, und einer bereits suchtartigen Abhängigkeit von Smartphone und Co., etwas entgegenzusetzen, läuft derzeit das ganze Bemühen darauf hinaus, alles auf Online zu bringen und zu glauben, der ganze Mensch ließe sich digital „bilden“, so als genügte Fingerhakel-Training für einen Sieg im olympischen Zehnkampf.
Werden Arien einer Oper oder Operette noch davon künden, dass man eine große Liebe im tiefsten Herzen spürt? Oder kann der Wiener Kutscher noch angesichts der Fahrt vom Schloss zum Lusthaus in sich drin spüren, dass er ein echter Fiaker ist? Vielleicht könnte es aber auch so weit kommen, dass das Einzige, was einen mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter noch vom Geschöpf unterscheidet, ist, dass er kein Gespür hat.
Veröffentlicht in der Schrobenhausener Zeitung am 30. 1. 2021
Helmut Zöpfl, Autor
Prof.Dr.phil.; Dr.phil.habil.;Dr.rer.nat.;
Dr.theol.et.Dr.sient.h.c.; Dr.paed.et.ling.h.c; Dr. jur.hc.