„Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch. Dort treffen wir uns.“
Dieser Satz gilt als einer der Programmsätze der gewaltfreien Kommunikation. Er wird dem mittelalterlichen Sufi Mewlana Rumi zugeschrieben.
Die letzten Wochen und Monate waren für mich eine Zeit der Entschleunigung, in der mir der Wert von „Resonanz“ als Art und Weise der Beziehung zu mir selbst und meiner Umgebung wieder neu aufgegangen ist. Gerade weil neue Umgangs- und Verhaltensregeln nötig geworden sind, lassen mich diese häufig unsicher sein: Bin ich jetzt „richtig oder falsch“ in meiner Einschätzung? Meinem Verhalten?
Das gilt nicht nur für „mit oder ohne Mundschutz“? Braucht es nun 1,5m oder 2m Abstand? Das merke ich vor allem beim Ringen um richtig oder falsch in den manchmal hitzigen Diskussionen über den Umgang mit der Krise.
Eine Kollegin sagt, dass sie es ungerecht empfindet, dass jetzt Milliarden locker gemacht werden, um das Virus einzudämmen. Wenn es sonst jedoch um die Hungertoten in der Welt und all die Opfer von Krieg und Verfolgung ging, wurde um wenige Millionen gerungen, die hätten viel Leid mildern können. Und ich merke meine innere Reaktion: „Stimmt! Ich denke genauso.“ Und gleichzeitig kriege ein mulmiges Gefühl, wenn ich sie erzählen höre, dass ihre Freundinnen sie bereits als Verschwörungstheoretikerin bezeichnen. Da geht mir auf: „Ich möchte lieber nicht in diese Ecke gestellt werden. Deshalb verkneife mir solche Thesen künftig lieber!“
Als ich in der Klinik auf einer Rolltreppe unterwegs bin und in Zeiten von „social distance“ schon drei Treppen Abstand zu meiner „Vorderfrau“ lasse, sehe ich deren erstarrten Blick. Auf den kurzen Moment des Schreckens in ihren Gesichtszügen, erfolgt ein hastiger Satz zwei weitere Stufen nach oben bis mich postwendend ein schnaubender Blick jetzt von fünf Stufen oberhalb von mir erreicht.
Solche Situationen sind inzwischen meine bevorzugten Übungsfelder im Hinblick auf Resonanz geworden. Meine Aufmerksamkeit lenke ich dann in mein Inneres und entdecke dann z.B. in dieser Situation:
Mein Urteil: „So eine unhöfliche Person! Wie kann man nur so ängstlich sein! Die hat sicher zu viel Drosten konsumiert!“
Mein Gefühl: „Ich ärgere mich über das unfreundliche Verhalten, das mir signalisiert: Ich bin nicht ok!“
Mein Bedürfnis: „Ich möchte Sicherheit im Umgang mit anderen und dazu brauche ich klare Kommunikation.“
(Ein erstes Aufatmen in mir, weil ich merke: Der Grundkurs „Gewaltfreie Kommunikation“ hat hilfreiche Spuren in mir hinterlassen!)
Meine biografischen Marker – ein ganz altes Muster überträgt sich aus der Vergangenheit in diese aktuelle Situation: „Ich empfinde eine tiefe Einsamkeit, weil ich vermeintlich etwas falsch gemacht habe, mich der bzw. die andere mich mit Nichtbeachtung straft und deshalb alleine zurück lässt.“
Eine kleine Begegnung lässt mich resonant werden für ein ganzes Knäuel von Empfindungen und Wahrnehmungen. Resonanz lehrt mich dabei, mehr über mich selbst und andere zu entdecken. Und dabei immer weniger über andere zu urteilen.
Anders als auf der Rolltreppe, ergeben sich dann Gespräche mit neuer Qualität. Dann geht es mir immer weniger ums Rechthaben, sondern mehr um das Entdecken der Anliegen, die sich hinter Thesen verbergen.
Als Seelsorger und Supervisor habe ich mir diese Haltung angeeignet. Aber auch mir geht sie manchmal verloren. Gerade in den vergangenen Wochen der Krise habe ich meinen eigenen Übungsbedarf wieder entdeckt.
Ich höre hinter der These, dass Corona nicht viel mehr als die Grippe ist, nicht eine Bagatellisierung der Gefahr, sondern z.B. die Überforderung, es mit dem pedantischen Partner und den pubertierenden Kindern in den 80qm einfach nicht mehr auszuhalten!
Ich entdecke hinter der Einstellung von Bekannten, die sich nur noch einmal die Woche die Gemüsekiste ins Haus bringen lassen und nicht mal über den Zaun mit mir sprechen wollen, die Angst wegen Vorerkrankungen, sich nicht gefährden zu möchten. Usw., usw.
Resonanz lässt mich zum Forscher und Entdecker werden – bei mir und bei anderen.
Ich erahne etwas von den Verwundungen und den Ängsten, die heftiges Streiten um richtig und falsch oft zudeckt – bei mir und bei anderen.
Ich werde sensibel für die Hoffnungen und verborgenen Sehnsüchte hinter den Argumenten – bei mir und bei anderen.
Und ich merke: Das Streiten um richtig und falsch ist mir letztlich zu langweilig, weil dieselben Thesen sich ständig nur wiederholen! Es kostet mir viel zu viel Kraft und hat nicht selten sogar zerstörerisches Potential. Für mich ist es keine Alternative zu dem, wie eine resonante Haltung bewegt und berührt, auch durch einen meiner Lieblingstexte. Er stammt von Jehuda Ammichai:
Der Ort, an dem wir recht haben…
An dem Ort, an dem wir recht haben,
werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart
wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber lockern
die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und wie ein Flüstern wird hörbar an dem Ort,
wo das Haus stand,
das zerstört wurde.
Reiner Hartmann
Pfarrer in der Klinikseelsorge
Augsburg
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