Lernzeit in der Unverfügbarkeit

Ralf Gössl

Lernzeit in der Unverfügbarkeit

Lernzeit in der Unverfügbarkeit 600 660 Ralf Gössl

Für das Jahr 2020 war schon ziemlich viel geplant in meinem persönlichen Kalender und auch im Kalender unserer Pfarreiengemeinschaft. Alles schien für 2020 „unter Dach und Fach“ zu sein. Dann aber bestätigte sich bei einer Darmspiegelung im Januar, dass ich eine entzündete und langwierige Erkrankung habe. Im Laufe der nächsten Wochen kamen neben den Schmerzen auch noch weitere und unangenehme Probleme dazu. Ich konnte meinen Dienst in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrnehmen. Schließlich dauerte es  nur noch wenige Wochen und wir alle steckten in der „Corona-Krise“. Rein äußerlich konnte ich nicht mehr viel tun, da ich zusätzlich auch noch Probleme mit dem Herzen habe und auf einmal zum Kreis derer gehörte, die sich auf keinen Fall infizieren sollten. Schließlich versuchte ich neben dem Dienst des Gebetes meinen Dienst auch durch Mails und Briefe sowie durch einige Veröffentlichungen wahrzunehmen. Ich durfte in dieser Zeit aber auch spüren, dass in mir innerlich einiges in Bewegung kam. Geistlich inspirierend waren für mich besonders das Beten mit der Heiligen Schrift, der Exerzitienweg des hl. Ignatius von Loyola und das Ruhegebet, das ich nun auch schon seit vielen Jahren bete. Mir wurde immer klarer, dass es neben allem äußeren Tun – so wichtig das auch ist – einen inneren Resonanzboden gibt, in dem manchmal auch durch Krisen hindurch etwas neu zum Tönen kommt.

In der Osterwoche habe ich schließlich das Buch von Hartmut Rosa „Unverfügbarkeit“ gelesen. Es hat mich  gerade in meiner persönlichen Situation an Ostern 2020  ganz stark berührt und etwas in mir ausgelöst. Habe ich nicht auch schon zu oft versucht, mir möglichst viel verfügbar zu machen? Tut mir vielleicht diese „Lernzeit in der Unverfügbarkeit“ ganz gut? Mir kam auch ziemlich schnell der Gedanke, dass dieses Buch sehr gut in die heutige Zeit hinein passt. Denn eine Welt, die – scheinbar – immer verfügbarer geworden ist, wird durch einen unsichtbaren Virus vollkommen unverfügbar gemacht.

Mir kamen ganz spontan sehr viele Stellen der Bibel in den Sinn, wo Menschen sich Gott verfügbar machen möchten: Adam und Eva wollen so sein wie Gott (vgl. Gen 3,4); beim Turmbau zu Babel möchten sich die Leute Gott verfügbar machen und einen Turm bis zum Himmel bauen (vgl. Gen 11); beim Tanz ums goldene Kalb versuchen die Israeliten, Gott dingfest zu machen (vgl. Ex 32); die Leute möchten sich die verschiedenen Propheten (besonders deutlich bei Jeremia) verfügbar machen, damit sie das sagen, was sie hören wollen. Das ist auch ein Aspekt der Passion Jesu. Aus den Evangelien geht hervor, dass Jesus sich nicht verfügbar machen ließ von einzelnen politischen oder religiösen Gruppen.

All das sind keine Geschichten aus vergangenen Tagen. Das ganze „Theater“ spielt sich auch heute ab und es spielt sich – mehr oder weniger – in jedem Menschen ab. Je mehr all diese genannten Leute und Gruppen sich Gott  verfügbar machen wollten, umso mehr wurden sie mit der Unverfügbarkeit Gottes konfrontiert. „Deus semper major“ – Gott ist immer größer. Mir scheint, dass die Versuchung Jesu in der Wüste auch eine ganz klassische Geschichte ist, wo Jesus dem Drang zur Verfügbarmachung (von Nahrung, Ansehen und Macht) total widerstanden und damit seine Freiheit gezeigt hat (vgl. Mt 4, 1-11).

Das Thema Unverfügbarkeit spielt ganz stark in mein Leben als Priester herein. In meinem Dienst stehe ich zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit. Ich habe die Berufung, für die Menschen verfügbar zu sein. Trotzdem aber bleibt es für mich letztendlich unverfügbar, was dieser Dienst in den Menschen bewirkt. Auf der einen Seite ist es wichtig, verfügbar zu sein. Auf der anderen Seite aber darf ich nicht so über mich verfügen lassen, dass ich mich dabei selber aufgebe und krank werde. Aber auch ich selber muss die Zurückhaltung haben, die unverfügbare Berufung der Menschen in meiner Gemeinde zu sehen. Das zeigt sich für mich auch darin, viele Formen, den Glauben zu leben, in Freiheit nebeneinander zuzulassen und zu fördern. Ich habe den Eindruck, dass das Thema „Unverfügbarkeit“ auch ganz stark herein spielt in die kirchlichen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Es ist die Versuchung da, genau die richtigen Rezepte haben zu wollen, damit die Zukunft von Glaube und Kirche verfügbar(er) wird. Leider leben sich dabei die einzelnen Gruppen und Richtungen immer mehr auseinander. Für alle in der Kirche wünsche ich mir die Akzeptanz, dass das eine Evangelium Christi auf ganz unterschiedliche Resonanzböden fällt und in den verschiedensten Tönen zum Klingen kommt. Miteinander und nicht Gegeneinander können wir so ein großes Konzert des Glaubens geben.

In mir kam während ich das Buch las die Frage auf, wie ich die Balance finden kann zwischen verfügbar und unverfügbar. Ich habe doch die Berufung, als Priester verfügbar für meine Leute zu sein. Aber ich kann nur dann verfügbar sein (und dabei körperlich und seelisch gesund bleiben bzw. werden), wenn ich auch gleichzeitig unverfügbar bin. Schließlich habe ich beim Ende des Buches noch mal ziemlich zum Anfang vorgeblättert und eine gute Antwort darauf gefunden: „Die Notwendigkeit des Zusammenspiels der drei Momente der Berührung, der Selbstwirksamkeit und der Verwandlung macht deutlich, dass wir einerseits – wie eine Geige oder eine Gitarre – offen genug sein müssen, um uns berühren und verändern zu lassen, andererseits aber geschlossen genug, um mit eigener Stimme und selbstwirksam zu antworten“ (Seite 42). Also Offenheit und Geschlossenheit in einer guten Balance. Diesem Gedanken möchte ich weiter nachgehen, da möchte ich dabei bleiben… Das Verhalten Jesu ist mir dabei ein großes Vorbild. Ich möchte nur auf ein Beispiel verweisen: Joh 6,1-15. Bei der Brotvermehrung ist Jesus verfügbar für die Menschen. Er spricht zu ihnen, er heilt die Kranken, er gibt ihnen Brot. Aber zum Schluss macht er sich unverfügbar und zieht sich zurück, weil sie ihn „in ihre Gewalt“ bringen und zum König machen möchten. Zu Ostern hat mir eine Frau aus meiner Pfarreiengemeinschaft eine Mail geschickt und von sich selber geschrieben, dass sie bedingt durch die Corona-Entschleunigung  gerade die positiven Seiten eines Eremitendaseins spürt. Bei diesem Wort habe ich mich absolut wohlgefühlt und es weiterentwickelt. Ich habe ihr geschrieben, dass ich mich sehr gerne als „Teilzeiteremiten“ sehen würde. Einer, der sich immer wieder zurückzieht und der dann aber im seelsorglichen Dienst wieder ganz für die Leute da ist. Das ist gerade mein Thema, von dem ich mir sicher bin, dass es nicht nur für mich wichtig ist.

Was berührt mich ganz tief? Was löst Resonanz in mir aus? Mir wird immer noch klarer, dass da als erstes meine Beziehung zu Gott, zu Jesus, zum Evangelium steht. Damit komme ich nie an ein Ende und da bleibe ich immer am Anfang – ebenso wie Igor Levit mit der Mondscheinsonate. „Der Pianist Igor Levit wurde in einem Interview mit der Wochenzeitschrift ‚Die Zeit‘ gefragt, ob er den überaus populären Satz der Mondscheinsonate überhaupt noch hören könne. Er antwortete: Ja, ich habe die Sonate erst kürzlich gespielt. Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter will ich sie spielen… Ich möchte nie sagen: Das habe ich verstanden, das Nächste, bitte. Das Ziel ist: Ich möchte immer wieder am Anfang ankommen“ (Seite 53).  In meinem Leben gibt es immer wieder Zeiten, die ich als spirituell sehr fruchtbar empfinde. Es gibt aber auch Phasen, in denen ich Trockenheit und Dürre spüre. Wann mir Gott näher oder ferner ist, das wage ich selber nicht zu beurteilen. Ich kann nur sagen, dass die Sehnsucht immer da ist und dass ich auch immer wieder am Anfang, bei meiner ersten Liebe (vgl. Offb. 2,4), ankommen möchte. Es ist eine Erfahrung, die sich für mich in einer großen Tiefe in der Ostergeschichte am See in Galiläa ereignet (vgl. Joh 21, 1-19). Auf die Frage Jesu „Liebst du mich“  antwortet Simon Petrus:  „Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe“ (Joh 21,17). Diese Antwort des Petrus hat in mir eine so tiefe Resonanz ausgelöst, dass ich dieses Wort zu meinem Primizspruch ausgewählt habe und heute – nach 27 Jahren – immer noch spüre, dass das nach wie vor meine Antwort  ist. Dabei wird für mich immer noch klarer, wann ich „der Baum am Wasser“ (vgl. Ps 1,3/Jer 17, 8) sein darf und dabei zutiefst mit mir und meiner Berufung in Berührung bin. Nämlich überall dort, wo ich als Priester, Seelsorger und Geistlicher meinen Dienst tun und inhaltlich was von der Frohen Botschaft „rüberbringen“ kann. In Situationen, in denen ich diese Botschaft hinein verkünden darf in die Höhen und Tiefen menschlichen Lebens, wo ich Menschen geistlich begleiten und ihnen aus dem Evangelium heraus Impulse geben kann. Wenn ich zusammen mit den anderen Leuten auch ganz normal Christ, Mensch, Glaubender, Zweifelnder, Suchender sein darf. Da darf ich dann auch spüren, dass nicht nur ich den Leuten das Evangelium bringe – sondern dass mir das Evangelium Jesu auch aus den Lebensgeschichten der Menschen „ihrer Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst“ (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes) entgegen leuchtet. Ganz selbstverständlich brauche ich deshalb Orte und Zeiten der Ruhe, des Nachdenkens, des Betens. Dabei fühle ich mich von der Einladung Jesu an seine Jünger angesprochen: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus!“ (Mk 6, 32).

Vor Ostern war ich noch in der Versuchung, dieses Corona-Jahr verfügbarer zu machen. Ich habe innerlich schon wieder geplant und organisiert, wie wir das in der Pfarreiengemeinschaft alles handhaben werden mit den Erstkommunionen, den Taufen, den Hochzeiten, den Beerdigungen usw.… „Hand-haben“ – ein interessantes Wort…  Inzwischen merke ich zunehmend, dass dieses Jahr unverfügbar bleiben wird. Es lässt sich auch heute noch nicht so richtig planen und handhaben. Und ich merke, dass das auch ganz positiv und spannend sein kann. Ich muss dieses Jahr jetzt nicht im Griff haben. Und ich darf  schauen, was Gott mit mir vorhat – besonders auch durch alle gesundheitlichen Probleme und „Corona-Erfahrungen“ hindurch. Hat sich nicht die Unverfügbarkeit auch in der Komplet – dem Nachtgebet der Kirche – liturgisch ihren Ort gesucht? Mit diesem Gebet aus der Komplet möchte ich meine Gedanken abschließen. Ich mache das aber in dem Bewusstsein, dass ich dabei – wie Igor Levit – wieder an einem neuen Anfang ankomme: „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben.“

Ralf Gössl
Pfarrer der PG Gersthofen
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