Ich bekomme einen Auftrag für ein Vortragekreuz.
Ein Vortragekreuz hatte ich schon einmal gestaltet.
Dazu wurde ein Kreuz auf einem Holzstab in einen an der Wand montierten Schaft millimetergenau eingepasst.
Ganz senkrecht steht das Kreuz vor der Wand und ganz leicht lässt es sich aus der Halterung entnehmen –
solange die Lufttemperatur gleich bleibt!
Wenn sich die Luftfeuchtigkeit erhöht, schwillt das Holz an, das Kreuz lässt sich nicht mehr aus dem Schaft entnehmen –
wenn die Luftfeuchtigkeit niedrig ist, schwindet das Holz und das Kreuz wackelt in der Halterung…
Unbefriedigend…. Ich lerne aus dieser Erfahrung.
Um den Effekt der Luftfeuchtigkeit zu minimieren, lasse ich mir von einem Freund eine Messingbuchse und den Holzstab drehen – passt.
Die Buchse muss in den Holzschaft eingebohrt werden. Das dazu nötige Loch bohre ich auf meiner großen Ständerbohrmaschine,
nicht ohne vorher die Skalierung zu prüfen. Passt! Schnell ist das Loch gebohrt.
Ich montiere den Schaft an die Glasplatte, richte ihn genau senkrecht aus, füge die Buchse ein, die haargenau in das Loch passt
und stecke das Kreuz in die Buchse, ganz leicht senkt es sich – Ich gehe ein paar Schritte zurück, um den Anblick zu genießen –
das Kreuz steht schief, nur ganz leicht, aber doch so, dass es nicht auszuhalten ist.
Bedrängnis kommt auf, am nächsten Tag soll die Kreuzgestaltung montiert
und anschließend mit großer Festgemeinde bei der Einweihung einer Kindertagesstätte gesegnet werden.
Da fällt mir der Schorsch ein, ein handwerkliches Universalgenie, sofort rufe ich an.
Ja, er kann schon kommen, aber nicht vor 20.30 Uhr. – Phh, das wird eng.
Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, dämmert mir, was denn der Fehler ist.
Hast Du eine Vermutung?
Der Schorsch kommt, schaut sich die Sache an. „Das Loch im Schaft ist nicht ganz senkrecht gebohrt!“ lautet seine Diagnose,
die sich mit meiner Ahnung deckt. „Ich hab aber extra auf die Skalierung geschaut!“ kommt eine zaghafte Rechtfertigung aus mir heraus.
Tatsächlich ist auf der Bohrmaschine 0-Grad eingestellt. Aufatmen.
Jetzt muss man wissen, dass meine Bohrmaschine kein feinmechanisches Spitzengerät ist.
„Für ein so tiefes Loch ist die Skalierung zu ungenau.“, wird mir erklärt.
Der Schorsch spannt den Bohrer aus und ein glattes Rohr in die Maschine ein, er hat einen exakten Winkelmesser dabei,
legt ihn an, liest ihn ab,- es fehlt um ein halbes Grad.
Jetzt löst er die Tischarretierung, fordert mich auf, mit einem Holzhammer leicht auf die linke Seite des Tisches zu klopfen.
„Halt, halt nicht so fest! Jetzt nochmal auf die andere Seite klopfen, ganz leicht, ganz leicht… gut!“
Er prüft nochmal mit dem Winkelmesser, baut das Rohr aus und spannt den Bohrer ein.
Jetzt werden wir wohl einen neuen Schaft brauchen, denke ich, doch der Schorsch nimmt den bisherigen und spannt ihn auf den Tisch,
schaltet die Maschine ein und beginnt vorsichtig zu bohren:
Sch, ssch, ssz… ein paar kleine Späne heben sich im Loch und fallen auf die Seite.
Das wird wohl nicht viel Wert habe, denke ich kleinlaut,
aussprechen traue ich mir das nicht, lieber mal abwarten.
Er schaltet die Maschine aus, löst den Schaft, bläst in das Loch, ein wenig Staub wirbelt auf,
nimmt die Buchse, steckt sie in den Schaft montiert ihn auf der Glasplatte und steckt das Kreuz hinein.
Er hält es und fordert mich auf einen Schritt zurückzutreten und zu schauen.
Das Kreuz steht senkrecht!
Und jetzt durchzuckt es mich:
Wie wenig fehlt bei der Kreuzgestaltung und manchmal im Leben,
ist knapp daneben und doch voll vorbei… ist so schief, dass man es nicht lassen kann.
Und wie wenig braucht korrigieren bei der Kreuzgestaltung und manchmal im Leben, dass es wieder stimmt.
Der Schorsch nimmt die Buchse aus dem Schaft,
spritzt ein wenig Montagekleber in das Loch und setzt die Buchse wieder ein, ein paar Minuten und sie sitzt fest und gerade.
Martin Knöferl
