Es droht gerade zum Modewort zu werden. Nach „Achtsamkeit“, was bei vielen mittlerweile nur mehr Brechreiz auslöst, droht es der „Resonanz“ gerade ebenso zu gehen. Ausgelöst wurde der Hype um die Resonanz von Hartmut Rosa, dem Jenaer Soziologen ohne Starallüren, der in seinen Veröffentlichungen äußerst kritisch mit den Prozessen ins Gericht geht, die Dinge und Begriffe hochjubeln und sie in den Blick nehmen, um sie danach bald wieder fallen zu lassen – ohne dass eine wirkliche tiefgreifende Auseinandersetzung damit stattgefunden hätte.
Doch von vorne: Seit seiner Eröffnung 2007 beschäftigt mich das erzbischöfliche Kunstmuseum Kölns. Kolumba ist anders. Kolumba wurde und wird immer noch bejubelt und mit Preisen und Lob für den Bau, für das Konzept, für die Sammlung, für die Ausstellungen usw. überschüttet. Was ist es aber, das dieses Museum ausmacht? Die verwegene Mixtur von Alt und Neu, von „Sakral“ und „Profan“? Das versuchen mittlerweile viele. Die fehlende Beschilderung? Gibt’s anderswo auch. Ein spektakulärer Museumsbau? Andere sind viel spektakulärer. Warum hat dieses Museum so eine Wirkung auf die Besucher*innen – auf mich ja auch. Lange fand ich das „Rezept“ nicht. Wie machen die Kuratoren das? „Hemmungslos subjektiv“, bekam ich zur Antwort. Dann kam 2013 ein schmales Buch in den Handel: Beschleunigung und Entfremdung von Hartmut Rosa. Spannend war, was ich in den Rezensionen las, und noch faszinierender war das Buch selbst. Die Welt, also alles um uns herum und sogar wir selbst, werden uns immer fremder, weil wir keine Zeit mehr haben uns etwas anzueignen. Aneignung, Verortung, Selbstwerdung… all das braucht Zeit und die haben wir nicht mehr. Alles wird immer schneller. Rosas Buch war eine Offenbarung! Doch die Selbstverwirklichungsindustrie machte aus dem nachdenklichen Soziologen kurzerhand den „Entschleunigungspapst“ und versuchte ihn für sich einzuspannen. Effizienter leben dank Entschleunigung! Rosa fühlte sich nicht wirklich verstanden, denn die Geschwindigkeit ist erstens nicht per se schlecht und zweitens ist der Prozess nicht rückgängig zu machen. Sperrt man zwei Menschen einige Zeit in einen Raum, heißt es ja nicht, dass sie als Freunde wieder herauskommen – ebenso wahrscheinlich ist es, dass sie sich derweil an die Gurgel gegangen sind. Natürlich ist es leichter eine Beziehung zur Welt aufzubauen, wenn man mehr Zeit hat, aber das ist nicht der einzige, nicht der wichtigste Faktor.
Die Welt ist durch Technik und modernen Kommunikationsmittel ein Dorf geworden. Alles scheint überall und jederzeit habbar zu sein, aber der Mensch wurde zum ruhelosen Nomaden in dieser Welt. Im Evangelium heißt es: Was nutzt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber dabei verliert. (Mt 16,26). Er wurde elend in der Bedeutung dieses Wortes: heimatlos. Alles wurde fremd, letztlich sogar er sich selbst. Heimatlosigkeit außen und innen, das ist das Elend. Hartmut Rosa sagt, dieses Gefühl komme daher, weil wir uns nichts mehr aneignen. Es bedarf aber viel mehr als nur des Zeitabsitzens damit Aneignung passiere. Man muss sich aussetzen, bereitsein, öffnen, vulnerabel (verletzlich) werden. Weil das viel mehr als Entschleunigung ist, schrieb Rosa 2016 ein zweites Buch. Diesmal dicker und ohne Lexikon für Laien schwer zu lesen: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Für mich sehr überraschend kam dann Ende 2018 sein Buch Unverfügbarkeit heraus. Aber nicht erst jetzt fragte ich mich, warum er sich scheut die eigentlichen Quellen seiner Gedanken zu nennen? Freilich ist es in aufgeklärten und wissenschaftlichen Kreisen nicht schick, wenn nicht sogar ungeschickt, sich zu Gedanken aus der religiösen Literatur zu bekennen. Vielleicht will er diese Einsichten in aller Neutralität und frei des religiösen Ballasts den Zeitgenossen vermitteln? Das waren meine Gedanken. Doch danach gefragt reagiert Rosa verwundert. Diesen Weg sei er ganz allein gegangen, von besagter Literatur der geistlichen Meister und Mystiker war er nicht beeinflusst. Ich war erstaunt und sehr berührt. Da kommt ein Wissenschaftler unserer Tage zum gleichen Ergebnis wie kontemplative Menschen aller Jahrhunderte.
Hartmut Rosa kam zum Schluss, dass die Zeit nur ein kleiner Faktor bei der Aneignung – der Einswerdung – spielt. Wichtiger ist die Einstellung des Menschen, die conditio humana. Religiöse Menschen, zumal Theolog*innen hätten in ihren vielen Büchern eigentlich schon alles stehen. Ob der Pseudo-Dionysius Areopagita, Duns Scotus, Bonaventura, Margarete Porete, Meister Eckhart bis hin zu Edith Stein, der Meisterschülerin von Edmund Husserl, oder Romano Guardini und Josef Pieper: Alle haben es schon längstens selbst erfahren und niedergeschrieben. Aber auch heute noch finden sich kaum Leute zur Kontemplation zusammen. Der Weg fordert eben nicht nur Zeit und Muße, sondern auch Unvoreingenommensein, Offenheit und Verwundbarkeit. Es ist nicht das fragwürdige Glücksgefühl das ich nach fünf Hallelujagesängen meine abrufen zu können – schnelle und leichte Befriedigung bietet dieser Weg nicht. Doch unglaubliche Höhen und Tiefen tun sich auf, wenn sich die Dinge, wenn sich die Welt einem zeigt und offenbart. Gott ist es letztlich, der sich offenbart in allen Dingen seiner Schöpfung. Oder eben in der Kunst – ein besonderer Weg der Weltbetrachtung.
Wem Rosas wissenschaftliche Lektüre zunächst zu schwer scheint, dem empfehle ich Romano Guardinis Vom Geist der Liturgie zu lesen, vor allem das kurze Kapitel Liturgie als Spiel und dann gleich im Anschluss daran das schmale Buch von Josef Pieper Muße und Kult. Sehr zu empfehlen ist auch Hans-Peter Balmers Es zeigt sich (2018), die Reflexion eines lebenslangen philosophischen Suchens. Für die persönliche Umsetzung und die Selbstwerdung sind diese Bücher neben Texten Hartmut Rosas sehr hilfreich, wenn nicht unentbehrlich. Wer sich darüber hinaus fragt wie dieses Phänomen, die Resonanzerfahrung, zu einer Kultur werden kann – oder schon geworden ist – derjenigen und demjenigen möchte ich meine eigene Beschäftigung mit dem Thema empfehlen: Ralf Gührer: Kolumba. Genese eines Konzepts, eine Rezeption der Ehrfurcht (oder besser Andacht?) vor den Dingen, der Verwundbarkeit des Menschlichen und eine Hommage an eine Kirche, die demütig vor der Kraft der Kunst ist. Das nämlich ist das „Erfolgsrezept“ des Kunstmuseums Kolumba.